Sind Schulmedizin und Naturheilkunde miteinander vereinbar? Darüber hat Gesündernet mit Dr. med. Axel Eustachi von der Technischen Universität München im Interview gesprochen. Er ist Facharzt für Allgemeinmedizin und Funktionsoberarzt der Ambulanz im Kompetenzzentrum für Komplementärmedizin und Naturheilkunde.
Gesuendernet.de: Herr Dr. Eustachi, welche Rolle spielen Heilpflanzen aus allgemeinmedizinischer Sicht?
Axel Eustachi: Heilpflanzen spielen in der Allgemeinmedizin vor allem eine ergänzende Rolle. Wenn ein Patient beispielsweise Beschwerden hat, für die keine messbaren Ursachen festgestellt werden können und für die sich auch keine schulmedizinische Behandlung ergibt, können Heilpflanzen sinnvoll zum Einsatz kommen. Sie sind außerdem die tragende Säule der großen naturheilkundlichen Medizinsysteme wie zum Beispiel der traditionellen chinesischen Medizin (TCM) oder Ayurveda.

Gesuendernet.de: Wie sieht es mit der Erfolgswahrscheinlichkeit bei einer Behandlung mit Heilpflanzen aus?
Axel Eustachi: Die Beurteilung der Erfolgswahrscheinlichkeit ist schwierig – ich würde es anders betrachten. Man setzt Heilpflanzen nicht nur symptomorientiert ein. Man fragt den Patienten nach seiner gesamten vegetativen Symptomatik. Ist der Patient beispielsweise jemand, der zu Hitze oder zu Kälte neigt, der gut oder schlecht verdaut, ist er über- oder untergewichtig und so weiter. Man versucht sich also einen Gesamteindruck zu verschaffen – über Mensch und Beschwerden. Dann versucht man die geschwächten Funktionen mittels Naturheilkunde – insbesondere durch Heilpflanzen – zu stärken. Die Stärkung der geschwächten Funktionen ist besonders wichtig, um die Regulationsfähigkeit des Patienten zu verbessern.

Gesuendernet.de: Wonach wird überhaupt abgewogen, ob chemische Präparate zum Einsatz kommen oder naturheilkundliche Mittel beziehungsweise eine Kombination aus beiden?
Axel Eustachi: Jede Akutsituation, die eine schnelle Besserung benötigt, zum Beispiel eine schnelle Schmerzbehandlung, ist ein Fall, in der man nicht warten kann, bis die sanfter wirkende Therapie mit Heilpflanzen ihre Wirkung zeigt. Da muss man mit chemischen Präparaten arbeiten, um den Patienten aus einer akut belastenden Situation herauszuführen. Wenn es um eine langfristige Stärkung geht oder eine Symptomatik sich langfristig durch Heilpflanzen unterstützen lässt, dann ist es immer sinnvoll, diesen Versuch zu machen. Insbesondere, wenn der Patient unter der schulmedizinischen Therapie Nebenwirkungen zeigt.

Gesuendernet.de: Kann man sagen, dass schulmedizinische Präparate stärker und schneller im menschlichen Körper wirken als heilpflanzliche Mittel? Wo gibt es generell Unterschiede?
Axel Eustachi: Im Großen und Ganzen kann man das so sagen. In chemischen Medikamenten haben wir häufig die Konzentration auf eine Einzelsubstanz, also auf einen einzigen Wirkstoff. In der Naturheilkunde finden sich häufig Kombinationen. Selbst wenn man nur eine Heilpflanze nimmt, haben wir in einer Pflanze eine ganze Gruppe von Einzelsubstanzen, die im besten Fall alle in dieselbe Richtung wirken. Der Unterschied liegt zudem häufig in der Dosierung der Wirksubstanzen: in heilpflanzlichen Mitteln sind diese in der Regel wesentlich geringer dosiert.

Gesuendernet.de: Können bei einer heilpflanzlichen Therapie auch Nebenwirkungen auftreten?
Axel Eustachi: Ja, definitiv. Die gängigsten Nebenwirkungen sind Unverträglichkeitsreaktionen im Verdauungstrakt. Es können aber auch geschmackliche Abneigungen sein. Wenn der Patient sagt, der Heilpflanzen-Tee schmeckt ihm nicht, muss man das ernst nehmen. Allerdings sind auch schwere Nebenwirkungen möglich. Es gibt Heilpflanzen, die bei falscher Dosierung giftig sind, Organschäden verursachen können und zum Teil sogar tödlich sind. Solche Pflanzen sind verordnungspflichtig. Was auch wichtig ist, ist die Frage nach den Wechselwirkungen. Es kann vorkommen, dass sich ein schulmedizinisches Präparat nicht mit einer Heilpflanze verträgt. Bekanntes Beispiel: Johanniskraut kann die Wirkung der Anti-Baby-Pille beeinträchtigen.

Gesuendernet.de: Gibt es auch Fälle, in denen Sie von einer Heilpflanzen-Therapie abraten?
Axel Eustachi: Ich bin vorsichtig bei Patienten mit einer nachgewiesenen Leber- oder Nierenbelastung. Wenn ich also nicht weiß, ob ich mit einer Heilpflanzen-Therapie eine zusätzliche Belastung mit ins Spiel bringe und mit ihr die eh schon beeinträchtigte Organfunktion weiter gefährde. Außerdem rate ich von Heilpflanzen ab, wenn eine bessere Behandlung durch die Schulmedizin gegeben ist, die sich durch Studien oder die medizinische Erfahrung begründen lässt.

Gesuendernet.de: Es gibt Kombinationstherapien aus Schulmedizin und Naturheilkunde – beispielsweise für Krebspatienten. Warum bietet sich hier eine Kombination an?
Axel Eustachi: Gerade bei Krebspatienten geht es um die Verbesserung des allgemeinen Wohlbefindens. Ein gängiges Beispiel wäre eine Therapie mit der Heilpflanze Mistel. Die wird dann allerdings nicht in Form eines Tees zu sich genommen, sondern vom Arzt injiziert. Bei Krebspatienten kann man durch den Einsatz von Heilpflanzen das Wohlbefinden in dem Sinne steigern, dass sich die Lebensqualität verbessert: Der Appetit wird angeregt, die Stimmungslage wird verbessert. Neue Studien sprechen außerdem für antitumorale Effekte mancher Heilpflanzen. Das heißt nicht, dass die Heilpflanze eine Chemotherapie ersetzt, aber sie kann eine Ergänzung dazu sein.

Gesuendernet.de: Immer wieder hört man von einem Konkurrenzkampf zwischen Schulmedizinern und Heilpraktikern. Wie erleben Sie die Situation? Sind Schulmedizin und Pflanzenheilkunde miteinander vereinbar?
Axel Eustachi: Ich sehe den Konkurrenzkampf zwischen Anwendern und Nicht-Anwendern von Heilpflanzen als überholt an. Ich denke schon, dass sowohl die Heilpflanzen-Therapie als auch die Schulmedizin für den Patienten gewinnbringend sind. Ich persönlich würde mir ein bisschen mehr Respekt beider Seiten voreinander wünschen. Es gibt Situationen, in denen die Schulmedizin unverzichtbar ist und ebenso solche, in denen man einen Einsatz von Heilpflanzen versuchen sollte. Gerade die Kombination ist für den Patienten interessant und erfolgsversprechend.




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