AW: Neurologische Schäden
Liebe Julia!
Ich wünsche Dir viel Kraft und Geduld für die schwere und nervenzerrende Situation, in der Du dich im Moment befindest.
Diese Zuckungen oder Reflexe, die Du schilderst sind für die Ärzte ein Anzeichen, daß es Hirnschädigungen gegeben hat. Das sind Reflexe die gestestet werden, die nicht auftreten sollten und die sich erfahrungsgemäß in den nächsten Tagen verstärken werden.
Bei meinem Vater war es damals so, daß man diese Reflexe zunächst an der Fußsohlenseite auslösen konnte, und späterhin dann an der Schienbeinkante und höher.
Zusätzlich werden bei den Beurteilungen des Zustandes neurologische Untersuchungen und verschiedene EEG´s hinzugezogen, die man als Besucher der Intensivstation nicht unbedingt sieht, weil man dabei nicht anwesend ist.
Wir hatten die Beatmung unseres Vaters nach der Reanimation damals nach dem 3. Reiz-EEG ohne Ergebnis abstellen lassen.
Es dauerte dann noch über 24 Stunden, bis seine Atmung und sein Herz aussetzte.
Es hätte auch sein können, daß der Zustand sich noch über Jahre so hingezogen hätte für ihn.
Seitdem die Medizin Herz-und Hirntod trennt, ist das für die Verwandten nicht immer einfach zu beurteilen und zu verstehen.
Wenn die Beatmung und Intensivmedikamentation abgestellt wird, dann könnte man Deinen Papa durchaus auf eine Normalstation legen. Der Vorteil hier ist, das man seinen Verwandten dann begleiten kann und daß Ihr nicht an Besuchszeiten gebunden seid.
Die Maßnahmen die medizinisch und pflegerisch getroffen werden sind dann dieselben.
Wenn Dein Papa dann ohne die Unterstützung der Medikamente die den Kreislauf in Gang halten weiteratmet, dann muß man weiter überlegen, was passiert.
In der Regel muß man sich eine Einrichtung suchen, die mit Wachkomapatienten arbeiten kann, oder die diese versorgen kann, was kein einfaches Unterfangen ist und daß auch nicht zu einem positiven Ergebnis führen muß,
daß man sich erhofft.
Der Zustand kann auch jahrzehnte lang so bestehen bleiben, ohne daß es eine Verbesserung gibt und ohne daß ein Herztod eintritt, oder jemals eine Reaktion seitens des Gehirns Deines Vaters gibt.
Sicherlich hat es schon Berichte von Menschen gegeben die nach Jahrzehnten aus dem Koma erwacht sind. Das sind aber leider Einzelfälle, auf die zu hoffen eine lange Qual für den Patienten und für die Angehörigen bedeutet und die bei 99 % ausbleibt.
Das zu Akzeptieren und damit umzugehen ist sehr schwer, vor allem weil man das Gefühl hat, die Verantwortung für das Abstellen der Geräte zu tragen.
Insbesondere wenn dann irgendjemand etwas sagt, daß nur einen Funken Hoffnung bedeutet, wie zb. von dem Pfleger ausgesprochen, dann hält man sich daran fest, weil es soetwas schließlich schon gegeben hat.
Du kannst jetzt nichts machen, außer abzuwarten und da zu sein und die Entscheidung ob die Geräte abgeschaltet werden mitzutragen, damit Du kein Sterben oder Leiden verlängerst.
Wenn die EEG´s so ausfallen, daß keine Besserung zu erwarten ist, dann nimm Deinen Papa an die Hand und begleite ihn,bis Du ihn nicht mehr weiter begleiten kannst und laß ihn dann in Frieden gehen, ohne weitere angebliche lebensverlängernde Maßnahmen, die auch ein Sterben verlängern können.
Das wird sonst für beide Seiten eine unerträgliche Qual.
Niemand von uns ist der Herr über Leben und Tod, auch kein Arzt oder ein Verwandter.
Wenn es Deinem Papa bestimmt ist, wieder aufzuwachen, dann wird er das nach dem Abstellen der Geräte irgendwann tun, oder er wird dann die Augen für immer schließen, weil er so krank ist, daß er nur noch leiden würde.
Mit einem Glauben an eine höhere Macht ist das einfacher. Man legt seinen lieben Menschen in Gottes Hand und vertraut darauf, daß diese Entscheidung zwar weh tun könnte,aber die richtige gewesen ist, die wir nicht mehr zu treffen haben.
Es wird auch einfacher, wenn man den Wunsch des Vaters kennt, weil es zb. eine Patientenverfügung gibt.
Wenn die nicht vorliegt, dann überlege, was Du oder Dein Vater in eine Patientenverfügung hineingeschrieben hätte, wenn Ihr die gemeinsam verfaßt hättet.
Was wäre der Wunsch Deines Vaters gewesen, wenn er diese Situation für sich hätte vorbereiten können?
Manche Geschichten die das Leben schreibt, die haben in unseren Augen kein HappyEnd.
Wir wissen aber nicht, was nach dem Tod wirklich passiert.
Vielleicht ist es ja ein HappyEnd, daß wir nur nicht kennen und erfassen können.
Ich wünsche Dir von Herzen viel Kraft in dieser schweren Zeit und daß Du die Möglichkeit bekommst Deinen
Vater zu begleiten, wohin das jetzt auch führen mag. Setz Dich ruhig neben ihn und rede mit ihm, auch wenn er nicht antworten kann. Es ist egal ob er Dich nun wirklich hören kann oder nicht.
Das ist für Dich selbst vielleicht viel wichtiger und kraftgebender als Du denkst.
Allerliebste Grüße Feli